Das Entsetzen war groß im Januar. AfD-Chefin Frauke Petry forderte damals, zur Grenzsicherung notfalls von der Schusswaffe Gebrauch zu machen und Beatrix von Storch präzisierte: auch gegen Frauen. Ein Shitstorm folgte, Empörung aus allen Parteien, Verbänden, in sozialen Medien. Auf Menschen schießen, um eine Grenze zu sichern? Verachtenswert, war sich damals die Mehrheit einig.

Nun ist aus der Theorie schreckliche Praxis geworden. Nicht an der deutschen Grenze, aber doch an einer europäischen Grenze, der zwischen der Slowakei und Ungarn. Die Nachrichtenagenturen meldeten am Montag: Slowakische Zöllner wollten vier mit Migranten besetzte Autos bei Velky Meder, an der ungarischen Grenze südöstlich von Bratislava, aufhalten. Eines der Fahrzeuge sei aber erst durch Schüsse zu stoppen gewesen. Die Beamten hätten auf die Reifen gezielt, ein Schuss habe offensichtlich das Heck des Autos durchschlagen und die Frau im Inneren des Wagens getroffen. Sie musste operiert werden.

Und wie reagiert die deutsche Öffentlichkeit? Sie schweigt. Von der einstigen Empörung ist offenbar nichts geblieben.

Die Taubers, Gabriels und Hofreiters, die vor nicht mal einem halben Jahr noch den bloßen Gedanken an solche Schüsse verurteilt hatten, melden sich jedenfalls nicht einmal zu Wort (Stand: Dienstagnachmittag). Als im Oktober vergangenen Jahres in Bulgarien ein Flüchtling von einem Grenzer durch einen Querschläger getötet wurde, gab es noch weitaus mehr Reaktionen. In den Nachrichtenagenturen einen Tag nach den Schüssen in der Slowakei: nichts. Auf Twitter unter dem Hashtag #Slowakia: Urlaubsbilder.

Wie kann das sein?

Die Slowakei ist weit weg

Eine Erklärung: Es war weit weg. Die Slowakei ist in der EU, okay, aber sie gehört im Empfinden vieler offenbar eher zum Balkan. Irgendwohin jedenfalls, wo es eh nicht so genau genommen wird mit Menschenrechten. Wen kümmert da schon ein Schuss mehr oder weniger. Wären die Reaktionen andere gewesen, wenn die Autos einige Kilometer weiter westlich die Grenze gequert hätten, die nach Österreich nämlich, und dabei beschossen worden wären? Wenn also ein direkter Nachbar Deutschlands auf Flüchtlinge zielt? Vermutlich schon. So lange es aber in der flüchtlingspolitischen Pufferzone irgendwo im Südosten passiert, und sei diese geografisch noch so nah, scheint es die Deutschen nicht viel anzugehen.

Hinzu kommt, dass noch wenig bekannt ist über die Schüsse. Warum genau haben die Beamten geschossen, wie genau hat sich der Fahrer verhalten? War der Schuss vielleicht wirklich das letzte Mittel, um eine unmittelbare Gefahr abzuwenden, oder hätte er leicht vermieden werden können? Ob es auf diese Fragen jemals Antworten geben wird, ist unklar – auch weil das öffentliche Interesse so gering ist, weil offenbar kein Politiker es als nötig erachtet, diese Fragen lautstark zu stellen. Am Nachmittag meldete nur das UNHCR zaghaft an, der Fall müsse untersucht werden.

Es ging gar nicht um den Schießbefehl

Eine andere mögliche Erklärung für die Diskrepanz zwischen Streit hier und Schweigen dort: In der AfD-Schießbefehl-Debatte ging es gar nicht wirklich um den Schießbefehl. Sondern um die AfD. Deren Provokationspolitik kristallisierte sich hier so deutlich wie nie zuvor. Die anderen Parteien, die Gewerkschaften und die Aktivisten, die auf das Reizwort Schießbefehl ansprangen, machten in der Debatte vor allem ihrer Wut auf die AfD Luft. Um die Frage, wie genau man als Grenzschützer mit illegalen Übertritten von Flüchtlingen umgehen soll, ging es ihnen weniger.

Die Brutalität ist normal geworden

Es gibt noch eine weitere Erklärung: Schießen ist normal geworden. In Syrien werden Krankenhäuser und Flüchtlingslager bombardiert, in Idomeni schießt die mazedonische Polizei mit Gummischrot und Tränengas auf Flüchtlinge. Und in der Türkei haben Grenzbeamte offenbar mehrmals auf syrische Flüchtlinge geschossen, wie gerade erst Human Rights Watch berichtete.

Vielleicht haben sich viele schon gewöhnt an diese brutale, neue Realität. Vielleicht sind sie abgestumpft, vielleicht hat auch die AfD-Schießbefehl-Debatte in der Theorie schon die Empörungsfähigkeit aufgebraucht, die nun in der Praxis offenbar fehlt. Kann es sein, dass der AfD-Vorschlag nicht nur ein Tabu gebrochen hat, sondern dass dieses Tabu dabei ist, tatsächlich zu verschwinden?

Wie harmlos wirkt nun die Debatte im Januar, als theoretisch über Schüsse auf Flüchtlinge gestritten wurde. Und nicht tatsächlich geschossen wurde.