Hessen: Deutschlands Mitte ist ganz stark am Rand

Landeskulturpolitik in Hessen

Das Land hat kulturpolitisch einen Lauf
Kassel ist vielleicht nur das leuchtendste Beispiel eines Trends: In Hessen bewegt sich was und zwar nach vorne. Ein weiteres Indiz ist das aktuelle Plus im Landeskulturetat. Mehr als elf Millionen Euro hat Kulturminister Boris Rhein bei seinem Finanzkollegen Thomas Schäfer für 2016 zusätzlich erwirken können. Das ist zwar kein Quantensprung, aber doch ein Plus von gut fünf Prozent und das in Zeiten, in denen auf Länderebene angeblich immer nur an der Kultur gespart wird.
Dabei ist offenbar ebenfalls endlich angekommen, dass die Freie Szene und Soziokultur seit Jahrzehnten nicht im gleichen Maße an der staatlichen Förderung teilhaben wie die oftmals – nicht zuletzt auch gewerkschaftlich – viel besser organisierten Institutionen der öffentlichen Hand. Vor den letzten Landtagswahlen im Herbst 2013 hatte es sogar noch einen „Hessischen Kultur-Notruf“ gegeben, unterstützt von so namhaften Künstlerinnen und Künstlern wie Katharina

Wackernagel, Erwin Pelzig oder Marc-Uwe Kling.

 

Lang ersehnt: Neue Regeln zur Mittelverwendung
Nun vermeldet die Landesarbeitsgemeinschaft der Kulturinitiativen und Soziokulturellen Zentren (LAKS) stolz ein „Modellprojekt Soziokultur“. Dafür hat man mit dem Minister nicht nur eine Verdoppelung der Landesförderung vereinbaren können, sondern auch deutlich vereinfachte Antrags- und Abrechnungsverfahren. Sogar die ewige Forderung, außer Projekte auch Konzepte und Infrastruktur zu fördern, wurde endlich erfüllt. Für viele mag das wie eine Marginalie klingen – für Künstlerinnen und Künstler, Institute und Initiativen ist das ein Meilenstein im Ringen mit den Regierenden. Zumal man von Darmstadt und Offenbach über Gießen und Marburg bis eben Kassel nun aus der Politik hört: „Wir werden die Freie Szene stärken!“.

 

Mit Wiesbaden liegt das politische Zentrum Hessens gute 170 Kilometer südwestlich von Kassel. Einerseits ist das mitten im Ballungsraum Rhein-Main, aber andererseits irgendwie trotzdem am Rand. Schon im geografischen Sinne: Zwei Brücken über den Rhein führen direkt nach Mainz und damit bereits ins benachbarte Bundesland Rheinland-Pfalz. Die beiden Städte knüpfen bislang nur vorsichtig kulturelle Bande, über eine gemeinsame Veranstaltung im Musikbereich namens Brückenschlag.
Eine stärkere Kooperation der beiden Hauptstädte, die als unmittelbare Nachbarn gleichzeitig am jeweils äußersten Rand ihrer Länder liegen, wäre nicht nur lokal förderlich, sondern darüber hinaus sogar ziemlich innovativ: Im Zusammenspiel von Landeskulturhoheit und kommunaler Selbstverwaltung, vielleicht sogar mit einem neuen „Kulturraum“-Gedanken. Faktisch kämpft man in Wiesbaden allerdings erst um die Kulturentwicklungsplanung. Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz lässt die dafür nötigen 250.000 Euro seit Jahren nicht in den Etatentwurf der Verwaltung schreiben, obwohl die Stadtverordneten das explizit beschlossen haben. Das Warum bleibt bis auf Weiteres ihr Geheimnis.

 

Wirklich bestimmend für Wiesbadens Randlage ist jedoch der große Nachbar Frankfurt – nicht die offizielle Landeshauptstadt, dafür aber eine echte Metropole. Bei den jährlichen Kulturausgaben pro Kopf liegt man mit 220 Euro sogar auf Platz Eins aller deutschen Städte. Und die einmalige Museumslandschaft am Main wächst noch weiter: Das lang ersehnte Deutsche Romantik-Museum ist zurzeit im Bau, rund um die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst entsteht ein riesiger Kulturcampus unter anderem mit neuen Standorten für Ensemble Modern, Forsythe Company und die Senckenberg Gesellschaft. Frankfurt ist gerade kulturell die eigentliche Hauptstadt Hessens – ein Bundesland, das seine Stärke gerne an den Rändern zeigt.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 5/16 erschienen.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
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