Die Polizei hat kein Recht darauf, angebetet zu werden – Seite 1

Tschuldigung, dass hier noch einmal zurückgespult wird, leider, aber es muss sein! Die SPD-Chefin und Bundestagsabgeordnete Saskia Esken hatte nämlich angesichts eines offenkundig völlig aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatzes in der Leipziger Silvesternacht in einem Interview eine Frage gestellt. Nämlich, ob "die Einsatztaktik angemessen war". Die Frage ist sehr neutral und sehr präzise.

Es handelte sich in dieser Nacht um einen alles in allem extrem verstörenden Einmarsch der Polizei in einem alles in allem extrem normal-bürgerlichen Leipziger Stadtteil namens Connewitz. Der übrigens anders als überall behauptet weder linksextrem noch alternativ "geprägt" ist. Es ist ein Stadtteil, der als einer der wenigen Leipziger Innenstadtbezirke über eine Bevölkerungsmischung aus Studenten, Alten, Familien, Besser- und Schlechterverdienern verfügt und in dem sich die amerikanischen Franchiseketten noch nicht breitgemacht machen. Stattdessen lassen sich etwas, oder sagen wir besser: minimalst Kultur, Kunst und Einzelhandel finden. Der einzige Unterschied zu den anderen Leipziger Stadtteilen ist, dass in Connewitz niemals die Reichskriegsflagge tage-, ach was!, wochenlang aus dem Fenster hängen kann, in der Eisenbahnstraße im Norden des Zentrum aber ging das über ein Jahrzehnt lang so. In Connewitz hätte man für so etwas die Fresse poliert bekommen, im Norden der Stadt hätte man sich ohne Hitlergruß, Glatze und Springerstiefel gar nicht sicher in den nächsten Konsum bewegen können. Aus dieser Zeit hat Connewitz den ehrenhaften Ruf des linksalternativen Stadtteils. Die Stadt war nach der Teilung nämlich noch jahrzehntelang geteilt. Da die Neonazis und die mit ihr sympathisierende Bevölkerung – und woanders diejenigen, die von diesem Milieu zutiefst abgestoßen waren. Na ja, alte Geschichten einer uralten Ex-Leipzigerin.

Der diesjährige Silvestereinsatz jedenfalls endete mit ernsthaft verletzten Polizisten, die zuvor mit Vermummten aneinandergeraten waren, die mit Knallwerk bewaffnet waren – kurz: alles in allem eine unfiligrane Begegnung.

Saskia Esken stellte daraufhin als einzige Politikerin in diesem Land die in dieser Situation nicht nur vollkommen angemessene und dringende, sondern auch nötige und richtige Frage: Welches Handlungskonzept verfolgte die Polizei?

Darauf folgte die öffentliche Bloßstellung einer Politikerin, die ziemlich allein und ziemlich korrekt gehandelt hat und dafür deutschlandweit von Politik, Medien und Bürgerschaft denunziert wurde. Es lohnt nicht, das alles zu zitieren, man kann es als politisches Tourettesyndrom bezeichnen. Von ganz oben, Esken falle der Polizei in den Rücken, während "die für uns die Knochen hinhalten" (Christian Lindner), bis nach ganz unten, "Saskia Eskens fatale Logik" (Nürnberger Zeitung), in der ihr Nachfragen als Provokation umgedeutet wird, die am Ende zum Ausleben linksextremer Utopien in rechtsfreien Räumen führen werde. Da taten sich intellektuell beachtliche Argumentationslinien auf.

Dabei sollte jeder Bundesbürger in diesem Land, nachdem so eine Frage in der Öffentlichkeit gestellt worden ist, erst einmal beruhigt aufatmen. Denn in einer funktionierenden Demokratie machen das Politiker so. Sie stellen die Polizeiarbeit nicht nur infrage, sondern kontrollieren sie fortwährend. Der Rechtsstaat zeichnet sich durch Gewaltenteilung aus. Das heißt, dass Judikative, Exekutive und Legislative sich gegenseitig kontrollieren. Kontrollieren, nicht vertrauen.

In einem Polizeistaat ist das Volk seiner Polizei schutz- und rechtlos ausgeliefert. Deutschland ist aber (noch) keine Diktatur, weshalb alle staatlichen Organe dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Damit die Polizei nicht in antidemokratische Bereiche abrutscht, in denen sie autonom und entfesselt vor sich hin eskaliert, muss jeder Schritt, den sie macht, jeder Tweet, den sie absetzt, jeder Griff zur Waffe akribisch und pingelig beobachtet werden. Das Benehmen eines jeden Polizisten hat juristisch tadellos zu sein. Diesen Anspruch darf jeder Demokrat in diesem Land seiner Polizei gegenüber äußern.  

So gesehen muss ein Polizeieinsatz, der so abgelaufen ist wie in Leipzig, zwingend hinterfragt werden. Zumal die von der Presseabteilung der Polizei Sachsen und in einem Interview des Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze gemachten Angaben zum Geschehen in der Nacht sich im Nachhinein als falsch herausstellten. Wenn staatliche Stellen wissentlich die Unwahrheit behaupten, spricht man übrigens von Propaganda. Tun sie es unwissentlich, spricht man von Fehlinformation. Beides ist problematisch. Die Fakten kennen und zurückhalten. Wie auch das Gegenteil: Die Fakten nicht kennen und irgendwas behaupten.

Erstaunliche Fehlerquote der Polizei

Die Kontrollinstanzen der Polizei sind, laut Bundeszentrale für politische Bildung, das Parlament, Gerichte und "die kritische Öffentlichkeit". Das ist die demokratische DNA dieses Landes. Die Gewerkschaft der Polizei lud Saskia Esken nach ihrer kritischen Bemerkung ein, sie in Sachen Polizeieinsätze und Gewalt unterrichten zu wollen. Die Polizeigewerkschaft ist keine neutrale Instanz, sondern eine Interessenvertretung. Trotzdem behandelt sie die Bundestagsabgeordnete Esken wie eine Problemschülerin mit Förderungsbedarf, die anzutanzen hat. Wenn es hart auf hart kommt, sind aber die Polizisten in der Gewerkschaft (sofern sie im aktiven Dienst sind) der Parlamentarierin rechenschaftspflichtig, nicht umgekehrt. Allein daran sieht man, wie wenig die Polizei es gewohnt ist, dass sie öffentlich befragt wird. Die Gewerkschaft ist übrigens auch nicht vor Ort gewesen. Genauso wie alle, die diesen Einsatz nur in den Medien verfolgten. Es wimmelt von Aussagen, aber es gibt keine Antworten. Ging es wirklich so brutal zu, wie behauptet wird? Gab es außer dem Polizeibeamten weitere Opfer? Zum Beispiel Bürger? Nicht zu fragen ist einfach nur naiv.

Vor einigen Jahren geschah Renate Künast das Gleiche. Als ein verwirrter Minderjähriger mit einer Axt im Zug nach Würzburg von einem Polizisten erschossen wurde, fragte Künast in einem Tweet: "Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden?" Gleiches Muster, Riesenempörung. Riesenvorwürfe. Und wieder weit und breit niemand, der begriff, dass es sich bei Nachfragen dieser Art um alleralltäglichste parlamentarische Demokratieübungen handelt. Stattdessen meldete sich wieder die Polizeigewerkschaft, damals durch ihren Vorsitzenden Rainer Wendt, und fand, dass man diese Art "parlamentarische Klugscheißerei" nicht brauche. Es sind die immer gleichen rhetorischen und politischen Muster, die dazu dienen, die kritische Hinterfragung der Sicherheitsbehörden gesellschaftlich zu tabuisieren. An so etwas hat nur Interesse, wer mit der Machtverteilung in der Demokratie sehr, sehr unzufrieden ist.

Die Tabuisierung geschieht auch innerhalb der Legislative. Saskia Esken, die ein normales und gesundes Verständnis von staatlicher Kontrolle hat, wurde von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner so gekontert: "Sind immer die anderen schuld? Oder kann man Extremisten einfach mal so nennen und ihren Angriff verurteilen?" Das ist auch deshalb fatal, weil man von einer Bundesministerin gegenüber ihren Sicherheitsbehörden kein devotes Duckmäusertum oder untertänigste Gefolgschaft erwartet. Die Polizei hat kein Recht darauf, angebetet zu werden, nicht einmal, wenn in ihren Reihen jemand verletzt wurde. Selbst wenn ein Polizist getötet werden sollte, sind Pietät und Mitgefühl möglich und knallhartes Nachfragen nötig.

In Erinnerung geblieben ist die befremdliche Aussage des Polizeipräsidenten Schultze zu den Tatverdächtigen. Es handele sich um "Verbrecher und "Unmenschen". Was ist ein "Unmensch"? Ein Tier, ein Ding? Ob das Markerschütterndste, wovon der sächsische Polizeipräsident in seiner bisherigen Laufbahn erfuhr, eine Handvoll auf Krawall gebürsteter, böllernder Vermummter ist, die mutmaßlich der linksextrem-autonomen Szene zugeordnet werden? Dann will man ihm sein Entsetzen und seine Erschütterung verzeihen und über die hysterische Formulierung des "Unmenschen" hinwegsehen. Bang fragt man sich allerdings auch: Wenn die sächsische Polizei mit ein paar gewaltbereiten Linksextremisten nicht zurechtkommt, wie will sie um Himmels willen mit Tausenden Rechtsextremen in organisierten und bewaffneten sächsischen Neonazistrukturen klarkommen?

Nahezu nichts, was die Polizei über diesen Einsatz in Leipzig-Connewitz erzählt hat, stimmte. Orchestrierte Angriffe, brennende, auf Polizisten zugeschobene Einkaufswagen, Notoperation – nichts davon stimmte. Diese Polizei will nun also die Geschehnisse aufklären. Und das ist die nächste Komplikation. Kann man einer Polizei glauben, die eine erstaunliche Fehlerquote beim Sammeln und Kommunizieren von Angaben über einen Einsatz aufweist und nun in eigener Sache ermitteln und überprüfen will?

Saskia Esken bleibt nur zu danken. Sie hat mit einer einfachen Frage die im Hintergrund schwelende politische und gesellschaftliche Gemengelage bloßgestellt.