Situation von Geflüchteten auf Lesbos – humanitäre Katastrophe durch europäische Solidarität jetzt beenden

Die Flüchtlingspolitik der EU Mitgliedsstaaten ist beschämend! Bereits seit April warten alle auf das schon seit vier Jahren verhandelte, neue Asyl- und Migrationspaket der EU, in dem die Eckpunkte einer neuen gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik skizziert werden sollen.

#selberhinschauenmoria

Corona hat das nicht abgestimmte System der Aufnahme und Verteilung an den EU Außengrenzen fast gänzlich zum Erliegen gebracht. Die Entwicklung, dass Staaten wie Griechenland Menschen auf der Flucht ohne rechtsstaatliches Verfahren zurückweisen bzw. zurück auf das offene Meer schicken (sogenannte Pushbacks – NEW YORK TIMES REPORT vom 14.08.2020 ), stehen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, europäisches Recht und moralische Grundsätze. Vor allem sind sie aber ein Symptom dafür, dass die Staaten an der europäischen Außengrenze allein gelassen werden.

  • Was muss ein neues System leisten?
  • Welche Bedarfe haben die Menschen vor Ort?
  • Welche Aufgaben übernehmen NGOs und welche europäische Unterstützung brauchen sie?
  • Wie lassen sich rechtsstaatliche Verfahren sicherstellen?
  • Welchen Schutz brauchen vulnerable Gruppen?

Wir werden die nächsten Tage Menschen treffen, die vor Ort leben, die helfen, die staatliche Verantwortung haben, die das alltägliche Überleben sicherstellen, die beobachten und die berichten.

Jeder Tag steht unter einer anderen Überschrift und soll das komplexe Thema von Flucht, Aufnahme, Unterbringung und Verteilung beleuchten.

Deutschland hat mit der Übernahme der EU Ratspräsidentschaft eine große Verantwortung angenommen, nicht zuletzt das europäische „Asyllotto“ zu beenden und eine europäische Antwort für Menschen auf der Flucht zu entwickeln.

Wir werden #selberhinschauen !


Im Gespräch mit der Deutschen Botschaft in Athen

Kathleen_Botschaft

Deutschland übernahm am 01. Juli 2020 die europäische Ratspräsidentschaft und damit eine große Verantwortung (siehe LINK). Diese Position versetzt die Bundesrepublik in die Lage größeren Einfluss auf die Debatten innerhalb der Europäischen Union zu nehmen.

In unserem Gespräch mit der Ständigen Vertreterin der Deutschen Botschaft Heike Dettmann und dem Botschaftsrat für Flucht und Migration haben wir über ihre Einschätzung der Situation vor Ort besprochen und welche Erwartungen aus ihrer Sicht die Griechen an die EU haben.

Eine der großen Herausforderungen bleibt die Reform des EU-Asyl- und Migrationspakts. Seit mittlerweile vier Jahren wird auf eine dringend notwendige Einigung unter den Mitgliedsstaaten gehofft.

Faire Regelungen zur Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge gibt es nicht. Die Staaten an den Außengrenzen, so auch Griechenland, verfügen nicht über die Mittel und Kapazitäten um Flüchtlinge aufzunehmen. Pushbacks, keine bzw. die Verhinderung von Seenotrettung und der humanitäre Ausnahmezustand in den Aufnahmelagern auf den griechischen Inseln sind Zustände, die Europa nicht würdig sind.

Für uns ist es nicht hinnehmbar, dass das Mittelmeer zum Massengrab für Menschen auf der Flucht wird und, dass die Menschen in den Aufnahmelagern verelenden.

Die Aufnahmelager werden vor allem durch spendenfinanzierte NGOs am Laufen gehalten. Die Grundversorgung der europäischen und griechischen Hilfen reicht nicht aus und NGOs sind in dem System existentiell. Wie die Zusammenarbeit und Finanzierung funktioniert, werden wir uns vor Ort anschauen.

Es braucht jetzt eine Reform hin zu einem gerechten und effizienten Asylsystem in Europa. DIE GRÜNEN/EFA im Europäischen Parlament haben im März dieses Jahres einen Entwurf vorgelegt.

Unser Ziel muss es sein, das Recht auf Asyl zu schützen. Ebenso elementar wichtig ist es, dass das Prinzip der ersten Einreise durch eine faire Aufteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedsstaaten ersetzt wird, sowie Anreize statt Zwangsmaßnahmen dafür geschaffen werden, damit Asylsuchende in dem Mitgliedsstaat bleiben, der für ihr Asylverfahren zuständig ist.

Die Relocation-Programme, die 2020 minderjährige Asylsuchenden und kranke, behandlungsbedürftige Kinder/Jugendliche sowie ihre Familie aus den Lagern nach Europa holen, werden durch griechische Partner vorbereitet und mit europäischen Institutionen, wie der EASO, abgewickelt. Bis Ende des Jahres sollen die deutschen Zusagen zur Aufnahme umgesetzt sein. Bei knapp 4.700 unbegleiteten Minderjährigen in Griechenland, wovon 1.118 in den Aufnahmelagern auf den griechischen Inseln leben (Stand 30.06.2020), kann das nur ein Anfang sein. Weitere vulnerable Gruppen, wie Familien mit Kindern, traumatisierte Personen oder alleinreisende Frauen brauchen dringend Perspektiven.

Weiterhin braucht es europäische und internationale Vereinbarungen über Resettlement-Abkommen, um besonders Schutzbedürftige ohne riskante Flucht in Sicherheit zu bringen.

Wir dürfen nicht vergessen: ein Großteil der Geflüchteten kommt im eigenen Heimatland oder in Nachbarländern unter und möchte auch dort bleiben. Eine echte Entwicklungshilfe setzt dort vor Ort an und ermöglicht den Millionen von Binnenflüchtlingen heimatnahe Perspektiven statt einer waghalsigen Flucht, nur um das blanke Leben zu retten.

Die neue griechische Regierung hat der Bevölkerung versprochen, europäische Solidarität einzufordern und die Hotspots zu entlasten. Die europäischen Mitgliedstaaten dürfen die Länder an den Außengrenzen nicht länger alleine lassen. Im Gespräch mit den Vertreter*innen der Botschaft wurde deutlich, dass diese Schritte jetzt dringend umgesetzt werden müssen. Wir werden vor Ort auch mit Stakeholdern des Gemeinwesens ins Gespräch kommen und die Situation vor Ort analysieren.

Wir werden #selberhinschauen!


Recht auf Asyl und Rechtsberatung – Im Gespräch mit NGOs vor Ort

Vor Ort zu sein und mit den Akteuren zu sprechen heißt für uns, die verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Die erste Station heute war das European Asylum Support Office (EASO). Die Organisation unterstützt die griechische Regierung und den Greek Asylum Service (GAS) bei der Registrierung der Geflüchteten und der Durchführung der Interviews. In über 30 kleinen Räumen werden täglich durch das EASO und den GAS bis zu 70 Interviews mit geflüchteten Menschen geführt und über deren Anerkennung entschieden. Die meisten der Mitarbeiter*innen sind Griech*innen. Die Hauptaufgabe sieht EASO in der Harmonisierung der Verfahren und dem möglichst schnellen Abarbeiten der Interviews. Um dieses Verfahren durchführen zu können, lernt EASO die Interviewer an und organisiert den Prozess. Weitere Informationen zum Interviewleitfaden können HIER nachgelesen werden.

An einem runden Tisch haben wird dann mit vier NGOs im Bereich Rechtsberatung gesprochen: Greek Council for Refugees (GCR), HIAS, Legal Center Lesbos und Fenix.

Die NGO´s beleuchten das griechische Asylsystem aus ihrer Perspektive für uns. Im Bereich der Rechtsberatung und sozialen Unterstützung arbeiten sie rein ehrenamtlich, meist gelingt dies nur mit der Unterstützung internationaler Voluntäre, die von ein paar Wochen bis zu 6 Monaten vor Ort arbeiten. Vom Griechischem Staat bekommen die NGO´s keine finanziellen Hilfen, vielmehr werden sie in ihrem Wirkungskreis beschränkt, zum Beispiel durch die Registrierungspflicht.

Inhaltlich versuchen die NGO´s vor den Interviews zu beraten, da es keinen öffentlichen Zugang zu Informationen für die geflüchteten Menschen gibt, und sie begleiten bei Terminen.

Zu dem griechischem Asylverfahren, insbesondere zu der seit dem 01.01.2020 geltenden Fassung des griechischem Asylgesetzes, dem „International Protection Act“ (IPA) gibt es von Seiten der NGO´s viel Kritik.

Das neu eingeführte „beschleunigte Verfahren“ auf den griechischen Inseln sieht vor, dass Geflüchtete nur einen Tag Zeit haben, sich auf ihr Interview vorzubereiten. Viel zu wenig Zeit für die Betroffenen um eine Rechtsberatung aufzusuchen und noch weniger Zeit für die Berater*innen, um sich in die komplexen Fälle einzuarbeiten. Es gibt Lücken bei der Weitergabe von Informationen. In den Camps gibt es keine Adressen, die Menschen sind nur über Telefon erreichbar. Telefone werden gestohlen. Oft werden die sogenannte „Community-Leader“ angerufen, welche die Informationen an die Betreffenden weiterleiten.

Die Menschen stehen dadurch unter hohem Stress, weil sie in ständiger Angst leben, die Einladung zum Interview oder anderen wichtige Informationen zu verpassen.

Den geflüchteten Menschen wird eine Dolmetscher*in für das Interview gestellt. Die ehrenamtlichen Rechtsberater müssen selbst Dolmetscher*innen organisieren. Weiterhin haben die Geflüchteten das Recht auf einen Anwalt bzw. Anwältin, dieser wird aber nicht von staatlichen Organisationen gestellt oder finanziert.

Derzeit gibt es auf den griechischen Inseln nur freiwillig arbeitende Anwält*innen, welche nur für einen bestimmten Zeitraum vor Ort sind. Eine kontinuierliche Bearbeitung von Fällen kann damit nicht gewährleistet werden. Ein weiteres großes Problem des reformierten Asylrechts ist, dass das Einreichen eines Rechtsmittels (appeal) anwaltspflichtig ist. Der Appeal muss von einem griechischen Anwalt eingereicht werden. Nur zwei Anwält*innen auf dem griechischem Festland stehen hierzu zur Verfügung.

Grundsätzlich haben die NGO´s Zugang zu den Geflüchteten. Auf Grund des Corona-Lockdowns ist es aber nur noch einer beschränkten Anzahl an Personen aus den Lagern erlaubt, diese zu verlassen und die Beratungsstellen der NGO´s aufzusuchen. In letzter Zeit haben nur 70 – 150 Personen am Tag eine Erlaubnis zum Verlassen der Lager erhalten.

Viele Familienzusammenführungen im Dublin-Verfahren kommen nicht und nur nach langer Zeit zustande. Es gibt einzelne Familienmitglieder die, trotz der Entscheidung, dass die Familienzusammenführung stattfindet, lange auf die Weiterreise zu ihren Familienangehörigen warten müssen. Uns wurde von einigen Fällen berichtet, in denen zwar ein Elternteil mit dem minderjährigem Kind zu dem anderen Elternteil reise durfte, das volljährige Kind hat jedoch keine Erlaubnis erhalten. Außerdem gibt es viele Fälle, in denen Griechenland das nach dem Dublin-Verfahren erforderliche Gesuch um (Wieder)Aufnahme aus deutscher Sicht zu spät stellt. In diesen Fällen lehnt Deutschland die (Wieder)Aufnahme ab.

Die hier beschriebenen Probleme resultieren letztendlich aus der Tatsache, dass Griechenland überfordert ist. Es geht kein Weg vorbei an einem abgestimmten europäischen Asyl- und Migrationspakt.

Aber es braucht nicht nur neue Vereinbarungen, auch schon lange ausgehandelte Verfahren, wie die Familienzusammenführung im Dublin-Verfahren müssen regelhaft genutzt werden. Auch unabhängig von Covid 19 sind die Zeitabläufe und die Verbindlichkeit zu überprüfen. Es muss Ziel sein, dass Familien sehr zeitnah an einem Ort in Europa Schutz und Perspektive erhalten und nicht das einzelne Familienmitglieder monatelang trotz Bescheid auf seine Weiterreise warten muss.

Wir werden #selberhinschauen!


Gesundheit, Kinder und viele bürokratische Probleme in Moria

Die Situation von Kindern und Jugendlichen, die als Flüchtlinge auf der Insel leben, haben uns Vertreter des UNHCR und Kinderschutzorganisationen am Runden Tisch „unbegleitete Minderjährige (UMA)“ geschildert. Die Zahlen sind erschreckend: Über 4000 Kinder und Jugendliche müssen in Moria leben. Darunter über 450 unbegleitet, d.h. ohne Begleitung der Eltern oder eines Elternteils oder eines für sie oder ihn verantwortlichen Erwachsenen. Sie sind in vielen Fällen im wilden Teil des Camps alleine unterwegs und erhalten weder Schutz noch Unterstützung von den dortigen Verantwortlichen. Selbst im „geschützten Bereich“ kann jeder ein- und ausgehen, die Kinder und Jugendlichen sind nachts alleine dort, Drogen, Sex gegen Geld und Gewalt sind hier für sie Alltag. Die Gefahr Opfer von sexueller Gewalt zu werden ist groß. Riskant ist bereits ein nächtlicher Toilettenbesuch aus dem Zelt durch den Olivenhain.

Griechenland hat 2019 die UN-Kinderrechtskonvention vorbehaltlos ratifiziert. Doch den Kindern und Jugendlichen werden grundlegende in der Konvention verankerte Rechte wie Unterkunft, medizinische Versorgung, gesunder Ernährung, Hygiene, Bildung, Beschäftigung und Sicherheit verwehrt.

So kann kein Kinderschutz in Europa aussehen.

Es gibt wohl von anderen Lagern aus Griechenland bereits Klagen auf Basis der UN Kinderrechtskonvention.

Das UNHCR begrüßt die europäischen Aufnahmeprogramme sehr, kritisiert aber, unterstützt von den NGOs in diesem Bereich, dass gerade Deutschland seine Aufnahmeregeln immer wieder ändert und damit keine Verlässlichkeit besteht. Die Verteilung von Minderjährigen ist an hohe Auflagen gebunden. Es müssen Interviews durchgeführt werden, die Vormundschaft geklärt und familiäre Beziehungen in anderen europäischen Ländern ausgeschlossen sein. Aus Sicht der Expert*innen ist es inakzeptabel, ist dass sich Aufnahmeländer besonders junge Kinder wünschen, ein bestimmtes Geschlecht oder eine Nationalität bevorzugen. Kinder sind Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und unabhängig davon , ob sie Mädchen oder Junge sind. Bei den letzten zwei Verteilungsverfahren (Luxemburg mit 12 und Deutschland mit 47 Kindern) wurden 540 Interviews geführt, die meisten der befragten Kinder warten noch immer auf eine Aufnahme.

Kathleen Kuhfuß und Lucie Hammecke am Runden Tisch zum Thema Gesundheit mit  „Ärzte ohne Grenzen“ und weiteren Organisationen.

Am Runden Tisch Gesundheit „Ärzte ohne Grenzen“ und weiteren Organisationen wurde sehr deutlich, dass das staatliche medizinische Systeme völlig überlastet ist. Nicht nur Themen, wie Frauengesundheit, Zahnmedizin oder psychiatrische Hilfen kommen viel zu kurz, auch die hausärztliche Versorgung ist katastrophal. Im Camp arbeiten von staatlicher Seite 3 Ärzte, 9 Krankenschwestern und einige Mitarbeiter*innen des psychologischen Dienstes. Ohne die NGOs gäbe es keine Notaufnahmen, keinen Kinderarzt, keine Medikamente, keine Covid-19-Station und auch keine Angebote zu Verhütung und Prävention.

Umso schwerer ist nachzuvollziehen, dass die NGOs keine Unterstützung erfahren und sich regelmäßig gegen Auflagen oder Bußgelder wehren müssen. Aktuell musste „Ärzte ohne Grenzen“ seine Covid-19-Station abreißen und 35.000 € Strafe bezahlen, trotz Absprachen mit der lokalen Politik, weil es keine Baugenehmigung gab. Griechenland hat eine mobile Krankenstation von der niederländischen Regierung geschenkt bekommen, welche jetzt als Covid-Klinik dienen soll. Es fehlt aber das Personal. „Ärzte ohne Grenzen“ wird am Ende Verantwortung für die Menschen im Camp übernehmen und versuchen ausreichend Personal zu finden. Die Verärgerung über derartige Aktionen war hier tagelang Gesprächsthema.

Das UNHCR beschreibt seine Aufgabe in der Koordinierung der Leistungen, der Unterstützung des griechischen Staates und der Organisation der notwendigen Hilfen auf der Insel Lesbos. Wenn man genau hinhört, zeigt sich die Unzufriedenheit mit der Situation vor Ort. Kritisiert wird, dass Menschen ohne Schutz und sanitäre Ausstattung bei unwürdigen hygienischen Bedingungen in Zelten, selbst gebauten Unterkünften oder Containern leben müssen. Ebenso wenig ist es hinnehmbar, dass nur wenige Kinder und Jugendliche Bildung erfahren und nur wenige Wohnungen für besonders Schutzbedürftige vorhanden sind. Gefragt nach ihren Wünschen, sind es die schnelle Versorgung vulnerabler Gruppen an sicheren Orten, die Verbesserung der Bedingungen im Camp und verbindliche Abkommen zur europäischen Verteilung der geflüchteten Menschen, statt finanzielle Unterstützung.

Zwischendurch im Cafe setzt sich der griechische Bauingenieurs S., der in Deutschland studiert hat, sein Leben auf Lesbos verbringt und sich nun als Rentner bei Nea Dimokratia politisch engagiert, neben uns. Er prangert die schlechte Versorgung der Flüchtlinge an, sieht die Probleme bei der griechischen Regierung und bei der Verwaltung vor Ort. Es sei viel Geld für die Flüchtlinge nicht da angekommen, wo es benötigt wurde. Die Bedingungen in denen die Flüchtlinge vor Ort leben seien unwürdig und es sei viel zu viel Zeit vergangen, in der nichts für die Verbesserung getan wurde. Auch dies ist eine Sicht auf die Dinge.

Wir werden #selberhinschauen!


Lichtblicke, Empowerment und unvorstellbares Elend

Geflüchtete Menschen auf Lesbos leben im Camp Moria. Direkt neben dem eigentlichen Lager schließen sich weitere Siedlungen an, die als „Dschungel“ bezeichnet werden. (Nähere Infos findet Ihr auch HIER) Zudem gibt es noch weitere kleine Camps, die oft eine bessere Infrastruktur als das Hauptcamp Moria aufweisen. Eines dieser Camps ist z.B. das Vorzeigecamp „Kara-Tepe“ des UNHCR für Familien. Hier leben bis zu 1300 Menschen in ca. 200 Containern, mit Schule, Freizeitangeboten und viel Hilfe von Geflüchteten für Geflüchtete. In dem Camp dürfen nur Menschen leben, die als außerordentlich schutzbedürftig gelten. Meist sind dies Familien mit mindestens einem schwerkranken oder behinderten Familienmitglied. Die Familien warten hier auf ihr weiteres Verfahren und oft auf ein Weiterverteilung in andere EU-Länder. Das Camp ist kein Zuhause, es ist eine Transitstation, aber es ist ein Ort an dem es zumindest Wasser, Duschen, feste Wände und Selbsthilfe gibt.

Hilfe zur Selbsthilfe ist auch im Bildungsprojekt „Mosaik“ von „Lesvos Solidarity“ oberstes Prinzip. Ein wunderschöner Hof, einige Klassenzimmer, eine Kreativwerkstatt und eine Näherei sind zum einen Orte der Begegnung zwischen Einheimischen und Geflüchteten und zum anderen Orte der Bildung. Einheimische und Geflüchtete arbeiten hier zusammen, vermitteln Wissen und Toleranz und wollen den Neuankömmlingen im Camp Orientierung geben. Die angebotenen Kurse bieten eine Unterbrechung vom trostlosen Campalltag und haben daher sehr lange Wartelisten. Damit geflüchtete Menschen, die in Moria leben müssen, hierher in die Inselhauptstadt kommen können, bekommen sie das Busticket bezahlt.

„PIKPA“, bezeichnet eigentlich einen Ort für Ferienlager in Griechenland. Auf Lesbos war der Ort lange verlassen und wurde vor einigen Jahren von Aktivisten für Wohnungslose umgestaltet und als Transitmöglichkeit für Geflüchtete genutzt. 2015 waren dann bis zu 700 geflüchtete Menschen hier notdürftig untergebracht. Heute sorgt das Team von „PIKPA“ für Menschen, die in Moria besonders gefährdet sind: Unbegleitet Kinder, minderjährige Mütter und Familien mit Einschränkungen. Gerade werden einige der kleinen Holzhütten für Frauen mit Neugeborenen hergerichtet. Die Volunteers wollen diesen Frauen einen sicheren Ort bieten und sie so aus dem lebensunfreundlichen Camp Moria holen.

Erschreckend war für uns, dass die Förderung durch UNICEF für die Betreuung der bis zu 30 unbegleiteten Kinder bei „PIKPA“ zum 30. September 2020 eingestellt wird. Dies macht einmal mehr deutlich, dass die Betreuung nicht nur durch Ehrenamtliche geleistet werden darf und kann. Durch den Wegfall der Förderung müssten die Kinder wieder ohne Schutz und Betreuung im Lager Moria leben. Noch dramatischer ist, dass einige der Kinder seit Monaten auf eine Familienzusammenführung warten – auch nach Deutschland. Die Organisatoren werden jetzt versuchen, über die Flüchtlingsräte der Städte die Verfahren zu beschleunigen. Im Übrigen wird auch hier auf die Hilfe von deutschen kommunalen Flüchtlingsräten gebaut.

„Flüchtlinge für Flüchtlinge“ ist in dem Camp in Sachen Bildung ebenfalls ein wichtiger Ansatz. Wir konnten mit zwei Schulen Erfahrungen austauschen, wie selbstorganisierte Bildung mitten im Elend funktioniert. Die Geflüchteten im Camp fungieren als Lehrerinnen und bieten Sprachkurs für andere, im Camp lebende, Geflüchteten an. Die NGO-Mitarbeiterinnen helfen bei der Infrastruktur, der Organisation und der Bereitstellung von Lehrmaterial. Schaut selbst:

„Stand by me Lesvos“, eine der NGOs, die Bildung organisiert, packt auch andere Probleme an. Nach dem Prinzip des Self-Empowerments bilden sie in Erste-Hilfe-Kursen Ersthelfer*innen aus, die im Falle eines Notfalls im Camp aktiv werden können. Außerdem organisieren sie mit Geflüchteten im Camp eine Art Pfandsystem, um den 15.000 Wasserflaschen die täglich weggeworfen werden etwas entgegen zu setzen. Hier könnt Ihr Euch selbst einen Eindruck vom Projekt verschaffen:

Stand by me Lesvos

Wir werden #selberhinschauen!


Überleben in Moria

Kein Ort um zu sein, kein Ort um Kinder großzuziehen und kein Ort um sich auf eine neue Zukunft vorzubereiten. Nach zwei Covid-Tests und fünf Tagen auf der Insel gehen wir am frühen Morgen zum Camp. Wir werden nicht in den eng bebauten Teil des Lagers gehen, keine Krankenstation besuchen und auch bei keinem der vielen Selbsthilfeprojekten vor Ort reinschauen, denn hier ist wie überall in Europa die Angst vor einer Ausbreitung des Coronavirus groß. Uns ist in den letzten Tagen noch einmal sehr deutlich geworden, dass die Menschen hier keine Chance haben sich zu schützen: weder durch social distancing noch durch Händewaschen oder gar -desinfizieren.

Beim Blick über das Camp wird klar, hier gibt es keine Struktur, kein System und keine Infrastruktur. Die Abwässer laufen zwischen den Hütten und Zelten in den nächsten Bach, wilde Stromleitungen geben einigen Behausungen Energie und gefährden damit die wenigen Pumpen im Camp, gespielt wird im Dreck oder mit Dingen, die man in Deutschland seinem Kind niemals erlauben würde, in die Hand zu nehmen. Gelebt, geschlafen und gegessen wird zumeist in selbst gebauten Unterkünften aus Müll, Planen und Bauresten, manche in Zelten oder in seltenen Fällen auch in Containern.

Momentan leben ungefähr 14.000 Menschen hier, im März sollen es 22.000 gewesen sein. Es sei jetzt mehr Platz, es gäbe weniger lange Essensschlangen, aber an Tagen, an denen es Joghurt gibt, stehe man immer noch vier Stunden an und man könne jetzt auch schon nach 30 Minuten kalt duschen gehen, erzählt uns Mohamed, ein Afghane, auf dem Weg.

Die Situation ist erbärmlich, menschenunwürdig und beschämend. Wenn man auf dem Hügel über der Slumlandschaft steht, kommt die Wut auf und die Frage, ob das alles hier genauso gewollt ist? Genauso, damit sich eben keine neuen Flüchtlinge vom „fetten Europa“ angelockt fühlen; genauso, damit wir die Fragen, wie wir in Europa gemeinsam Verantwortung übernehmen können, nicht klären müssen; und genauso, damit wir unseren deutschen Wähler*innen keine Sorgen vor Veränderungen, kultureller Öffnung oder gar Solidarität machen müssen.

Der Weg um das Camp ist gesäumt von menschlichen Ausscheidungen, es stinkt. Eines ist klar: das ist kein akzeptabler Zustand. Nirgendwo – aber besonders nicht in einem europäischen Camp, mitten in einer Wertegemeinschaft.

Es ist einfach schrecklich und wir müssen jetzt etwas tun!