Allein gelassen an der Außengrenze der EU: Ein Besuch in Kārsava

Mit Māris Kulešs wenige Meter vor dem lettisch-russischen Grenzübergang Grebņeva. Täglich kommen hier Geflüchtete aus der Ukraine an. Sie gelangen zu Fuß oder mit Transporten über Russland nach Lettland.
Mit Māris Kulešs wenige Meter vor dem lettisch-russischen Grenzübergang Grebņeva. Täglich kommen hier Geflüchtete aus der Ukraine an. Sie gelangen zu Fuß oder mit Transporten über Russland nach Lettland.

Kārsava, Lettland, ein sonniger Tag im Juli. Auf dem Parkplatz des Rathauses treffe ich Māris Kulešs. Er ist „economy expert“ der Gemeinde Ludza mit gut 23.000 Einwohner*innen an der EU-Außengrenze, zu der das Städtchen Kārsava gehört. Māris begleitet uns in das bescheidene, in die Jahre gekommene Verwaltungsgebäude, das eine Sanierung dringend gebrauchen könnte. Doch hier kommt kaum Geld an: „Niemand will hier investieren, wir sind zu dicht an der russischen Grenze“, sagt Māris.

Im Gespräch mit Inara Silicka im Rathaus von Kārsava.

In einem kleinen Büro empfängt uns außerordentlich herzlich Inara Silicka, stellvertretende Bürgermeisterin von Ludza – und als solche delegiert in den Kongress der Gemeinden und Regionen Europas. Ihr Englisch ist gebrochen, Māris übernimmt das Dolmetschen. Beide wollen mir die Situation an der Grenze zeigen, die ihre Gemeinde seit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vor riesige Herausforderungen stellt. Herausforderungen, mit denen sie sich von der Zentralregierung allein gelassen fühlen.

Nach einem kurzen Gespräch im Rathaus machen wir uns also auf den Weg Richtung Grenzübergang, der nur 15 Kilometer entfernt ist. Die Schlaglöcher in der Straße sorgen für eine holprige Fahrt aus Kārsava heraus. Kurz, nachdem wir den kleinen Ort verlassen haben, sehen wir die Lkw: Wie an einer Perlenschnur aufgereiht, einer nach dem anderen am rechten Straßenrand, Nummernschilder aus Polen, Russland, Litauen, Lettland, Slowenien, ein Ende ist nicht absehbar, es bewegt sich nichts. Es dauert mehrere Minuten, bis an der linken Straßenseite ein blaues Dixiklo auftaucht, unmittelbar daneben ein überquellender Müllcontainer. „Attention, the first toilet“, sagt Inara Silicka und lächelt – nicht fröhlich, sondern resigniert.

„Wir Fahrer haben keinen Krieg, wir sind alle gleich.“

russischer Lkw-Fahrer an der Grenze

Eine Handvoll Dixiklos später auf einer Strecke von zehn Kilometern Lkw-Stau erreichen wir den Grenzübergang Grebņeva. Ein russischer Lkw-Fahrer, der fast an der Spitze der Schlange steht, erzählt uns, dass er seit sieben Tagen hier ausharrt, er rechnet mit weiteren zehn Stunden, ehe er die Grenze zwischen der EU und seinem Heimatland passieren darf, um seine Ladung – Shrimps aus Kaliningrad – nach St. Petersburg zu bringen. An der Grenze zu Litauen habe er zuvor auch schon fünf Tage gewartet. Und ja, er habe genug Sprit, um die Kühlung am Laufen zu halten, damit die Shrimps bis zur Ankunft nicht verderben, keine Sorge. Aber wovon lebt er hier? Die Menschen aus Kārsava verkaufen ihnen Essen und Trinken, zu moderaten Preisen. Sie machen keinen Unterschied, was die Herkunft der Fahrer angeht. Konflikte untereinander gebe es auch so gut wie keine, den schlechten hygienischen und Versorgungs-Bedingungen zum Trotz. „Wir Fahrer haben keinen Krieg, wir sind alle gleich. Die Politik muss die Probleme lösen.“

Kilometerlang aufgereiht warten die Lkw auf der lettischen Seite der Grenze, dass sie diese passieren dürfen – momentan bis zu sieben Tage lang.

Unser Gespräch wird unterbrochen, als sich ein Lkw aus der Gegenrichtung nähert. Der Fahrer kurbelt die Scheibe runter und ruft unserem Gesprächspartner etwas zu, die beiden sehen sich offenbar nicht zum ersten Mal. Māris übersetzt: Bis vor kurzem stand der Mann ebenfalls mit seinem Lkw in der Schlange, er habe Farben geladen, die er nach Russland transportieren wollte, aber die Weiterfahrt sei ihm vom lettischen Zoll verwehrt worden. Ein Teil seiner Ladung steht offenbar auf der Liste der Güter, die mit Sanktionen belegt und nicht aus der EU nach Russland gebracht werden dürfen. Er muss umkehren.

Die Sanktionen sind natürlich der Grund für den Stau, der seit Mai anhält. Die lettischen Zollbeamten haben jetzt deutlich mehr Arbeit. Inara Silicka stellt die Sanktionen nicht infrage. Die Solidarität mit der Ukraine ist hier außerordentlich groß, der Druck von Russland auf Lettland unmittelbar spürbar. Eigentlich sollte ich bei meinem Besuch in Kārsava auch den Bürgermeister von Ludza, Edgars Mekšs, treffen. Aber: „Er ist vermutlich gerade irgendwo im Wald“, sagt Māris. Was er dort macht? Training mit der Nationalgarde, der er kurz nach dem Ausbruch des Krieges beigetreten ist.

„Die Regierung lässt uns hier draußen im Stich.“

Inara Silicka, stellvertretende Bürgermeisterin von Ludza

Russland will Lettland auch einnehmen, sagen Inara und Māris, das mache sich vor allem in Propaganda über die sozialen Medien unter der russischsprachigen Bevölkerung bemerkbar. Allzu viel nachdenken können sie in Ludza darüber nicht. Es gibt zu viel zu tun: Etwa 2.200 Geflüchteten aus der Ukraine, die über Russland nach Lettland kommen, haben sie hier schon Hilfe geleistet, sie temporär untergebracht, medizinisch und psychologisch versorgt, ihnen Sozialleistungen gezahlt, sie bei der Organisation der Weiterreise unterstützt. Das meiste davon stemmt die Gemeinde in Eigenleistung: „Die Regierung lässt uns hier draußen im Stich.“

Das gelte besonders für das Gebiet direkt an der Grenze. Natürlich gibt es Geld aus der EU, das komme nur hier im Osten des Landes nicht an. Weder für den Straßenbau, noch für eine notdürftige Infrastruktur für die wartenden Lkw-Fahrer. Da es sich um eine Bundesstraße handelt, darf die Gemeinde hier selbst ohnehin nicht eingreifen. „Unsere lokalen Firmen könnten hier Toiletten und Versorgungsmöglichkeiten schaffen, aber dafür wären Ausschreibungen nötig. Das dauert viel zu lange.“

Und was die Geflüchteten aus der Ukraine angeht, hat die Zentralregierung vor wenigen Tagen die Hilfsgelder deutlich zurückgeschraubt: Gab es vor dem 1. Juli noch 15 Euro pro Tag und Person für die Unterbringung vor Ort, sind es jetzt nur noch 3 Euro und 30 Cent. Mit der Folge, dass die Gemeinde es sich nicht mehr leisten kann, örtliche Hotels dafür in Anspruch zu nehmen, sondern nur noch auf eigene Gebäude zurückgreifen kann, Internate etwa. Lediglich 100 statt vorher 300 Schlafplätze gibt es jetzt. Nach den Sommerferien werden es noch weniger sein.

Zu denjenigen, die in den nächsten Tagen einen dieser Plätze in der Gemeinde belegen wird, gehört Julia. Wir treffen sie kurz nach ihrer Ankunft in Lettland direkt am Grenzübergang. Drei Tage war sie mit ihrer Familie unterwegs. Über Russland und St. Petersburg hat sie sich aus einem Dorf nahe dem 1.600 Kilometer entfernten Cherson in der Ukraine hierher durchgeschlagen. In Moskau und St. Petersburg gebe es Helferinnen und Helfer, die Transporte für die ukrainischen Geflüchteten organisieren, 200 bis 600 Dollar müssen diese für den Transfer bezahlen.

Julia hat sich vor wenigen Tagen aus der Nähe von Cherson auf den Weg nach Lettland gemacht. Sie berichtet von den Grausamkeiten der russischen Armee in ihrer Heimat.

Niemals habe sie gedacht, dass ihre Kinder einen Krieg erleben würden, erzählt Julia. Mühsam unterdrückt sie die Tränen, immer wieder streicht ihr Inara beruhigend über die Schulter. Erst kamen die Bomben, eine davon schlug im örtlichen Krankenhaus ein, eine andere im Nachbarhaus. Dann kamen die russischen Soldaten. „Sie haben uns alles genommen. Alles. Wir konnten nicht mal Zahnbürsten mitnehmen.“

„Die russischen Soldaten verfolgen kein Ziel mit ihrer Folter.“

Julia, ukrainische Geflüchtete

Was sie vor der Flucht erleben musste, ist allein beim Zuhören schon schwer erträglich: „Wer nicht mit den Russen zusammenarbeitet, dem wird ins Bein geschossen. Die Boote der Fischer sind alle zerschossen worden. Die russischen Soldaten kommen ins Dorf, zerstören alles, suchen die Männer und foltern sie, um des Folterns willen, ohne, dass sie etwas von ihnen erfahren wollen. Sie ziehen ihnen die Zähne, brechen ihre Knochen. Die russischen Soldaten verfolgen kein Ziel mit ihrer Folter. Sie sagen, dass wir im Paradies gelebt haben, und das sei jetzt vorbei. Es wird kein normales Leben mehr geben bei uns zuhause.“

Inara begleitet Julia zu einem Bus, der am Grenzübergang bereitsteht. Er wird die Ukrainerin gemeinsam mit Landsleuten nach Kārsava bringen. Hier wird sie einige Tage verbringen, in der EU angekommen, versorgt, in Sicherheit. Dann will sie weiter nach Polen, ein erwachsener Sohn von ihr lebt dort.

Die Transporte in den Ort organisiert die Gemeinde allein, wie so vieles, was die unmittelbare Hilfe für die Geflüchteten aus der Ukraine angeht. Die unzähligen Briefe und Mails, die Inara Silicka an die Zentralregierung nach Riga geschickt hat, sind bis heute unbeantwortet geblieben.